Mit dem Postauto von Martina nach Samnaun
Unterwegs mit dem Postautochauffeur Mario Heis
Hier mit dem PostAuto zu verkehren, war eine ganz besondere Herausforderung. Kaum einer meisterte sie so gut wie Mario Heis. Seit Dezember 2022 fahren alle Postauto-Kurse über die ebenfalls anspruchsvolle Zufahrtsstrasse über Österreich, welche jedoch über keine engen, einspurigen Tunnels verfügt.
Mario Heis nimmt uns mit auf einer seiner letzten Fahrten auf der Strecke Samnaun bis Martina. Dabei sitzt er locker im Führerstand seines Postautos und erzählt aus seiner Zeit als Postauto-Chauffeur. Gut 20'000 Gästefahrten hat er auf der Samnaunerstrasse absolviert. Daher kennt er jede Kurve und weiss haargenau, wie man durch die engen, einspurigen und kaum beleuchteten Tunnels und Galerien zirkelt. Eine Frage von wenigen Zentimetern.
Ohne Ruckeln, ohne Kratzer
Manch ein Fahrgast hat womöglich das Gefühl, hier passe kein Postauto durch. Doch Mario steuert sein Gefährt zügig in den dunklen Eingang. Die Felswand kommt jeweils bedrohlich nahe, dann verlangsamt er die Geschwindigkeit, steuert in die Kurve und gibt gleich wieder Gas, als ob er mit einem Kleinwagen unterwegs wäre. Das Postauto durchfährt den engen Tunnel wie aus einem Gus, ohne Ruckeln und ohne Kratzer.
«Ich habe mir Markierungen und Strukturen an der Tunnelwand gemerkt, um die Einlenkpunkte zu treffen», erklärt uns der erfahrene Postautofahrer. Trotzdem: Die Tunnels zwischen Vinadi und Samnaun und auch einige Engstellen in den Dörfern bleiben auch mit 30-jähriger Erfahrung eine Herausforderung. «Wichtig ist, immer bei der Sache zu bleiben und nicht nervös zu werden, wenn das Timing mal nicht optimal ist.»
Nur nicht nervös werden
Hindurchgekommen ist er noch immer, doch er hat auch schon mit dem Rückspiegel oder Heck die Wand touchiert. Apropos Rückspiegel: Diese wurden für die Postautos, welche auf der Samnaunerstrasse verkehrten, extra umgerüstet, um noch einige Zentimeter Platz zu gewinnen. Ausserdem ist die Fahrzeugausführung kleiner als bei den üblichen Postautos.
Hier Postauto zu fahren, ist ein schöner Beruf.
Mario Heis
Mario Heis ist ein waschechter Samnauner. Er ist im Tal aufgewachsen und hat zeit seines Lebens hier gewohnt. Nur für die Lehre als Automechaniker ging er ein paar Jahre weg. «Ich mag die Natur und die spektakuläre Landschaft. Hier Postauto fahren zu dürfen, ist ein schöner Beruf». Angefangen hat er als Chauffeur des Orts- und Skibusses, auf der Samnaunerstrasse fährt er seit 1993. Er erinnert sich noch gut an seine Jungfernfahrt: «Mir zitterten die Knie, weil ich nicht wusste, ob ich die Tunnels schaffe. Doch ich lies mir nichts anmerken.»
Steile Flanken und wilde Tobel
Wer die Strasse kennt, kann Marios damalige Aufregung gut nachvollziehen. Steilen Bergflanken entlang windet sie sich, während im Abgrund der Schergenbach gurgelt. Die gefürchteten Tunnels und Galerien befinden sich dort, wo wilde Tobel die Hänge durchziehen. Im Winter donnern hier mächtige Lawinen ins Tal. Die meisten werden künstlich ausgelöst mithilfe von Sprengmasten und bei Bedarf auch mit dem Helikopter.
Sicherheit dank 30 Sprengmasten
Die Strasse muss gelegentlich gesperrt werden, um die Lawinensprengungen ausführen und den Schnee räumen zu können. Meist ist die Strasse nur ein paar Stunden geschlossen, manchmal einen ganzen Tag. Ganz früher sei sie immer wieder mal vier oder fünf Tage gesperrt gewesen, erinnert sich Mario. Abhilfe geschafft haben rund 30 Sprengmasten. Diese sind per Fernsteuerung und auch bei schlechten Sichtbedingungen bedienbar, was die Samnaunerstrasse viel sicherer gemacht hat.
Mit den neuen Tunnels geht ein Stück Historie verloren.
Mario Heis
Ganz abgeschnitten von der Welt ist Samnaun aber nur selten. Auf der gegenüberliegenden Talseite gibt es nämlich eine zweite Strasse, die weniger ausgesetzt ist. Dort sind die Bergflanken flacher und weniger hoch, die Lawinen- und Steinschlaggefahr ist entsprechend niedriger. Allerdings liegt die Spisserstrasse auf österreichischem Boden.
Neue Tunnels sind im Bau
Künftig wird auch die Fahrt auf Schweizer Seite flüssiger sein, da an neuen, zweispurigen Tunnels gebaut wird, die gut ausgeleuchtet sind. Die beiden unteren Tunnels sind bereits in Betrieb, der dritte befindet sich im Bau. Im Herbst 2022 erfolgte der Durchstich; wenn alles nach Plan läuft, kann das Bauwerk im Sommer 2024 in Betrieb gehen. Und der Ersatz der beiden letzten einspurigen Tunnels ist bereits in Planung.
Als Postautochauffeur wird Mario die fertig ausgebaute Strasse nicht mehr befahren, denn im Frühling 2023 tritt er in den Ruhestand und kann sich vermehrt seinem Hobby, der Brandmalerei, widmen. Dass die alten Tunnels stillgelegt werden, findet er einerseits gut und richtig, andererseits bedauert er es auch: «Danach ist die Strasse nicht mehr dieselbe, ein Stück Historie und die Romantik gehen verloren.»
Einst für Pferdekutschen gebaut
In Betrieb ging die Samnaunerstrasse 1912, während einer Zeit, als Autofahren im Kanton Graubünden gesetzlich verboten war. Die Aufhebung des Fahrverbots für motorisierte Fahrzeuge erfolgte erst 1925. Die Strasse und ihre Tunnels wurden daher für Pferdekutschen und Fuhrwerke konzipiert, und nicht für Autos und schon gar nicht für Postautos.
Zollfreistatuts seit 1892
Vor dem Bau der spektakulären Strasse war Samnaun nur über Österreich erreichbar. Dies war auch der Grund, warum die abgelegene Talschaft am östlichsten Zipfel der Schweiz 1892 den Zollfreistatuts bekommen hatte: Wer in Samnaun wohnte, hatte keinen Zugang zum Schweizer Binnenmarkt und musste an der Grenze für jede Ware Zoll bezahlen. Mit dem Bau der Strasse fiel dieser Nachteil zwar weg, doch Samnaun ist bis heute zollfrei geblieben.
Die Strasse war auch eine wichtige Attraktion von Samnaun.
Mario Heis
Einkaufen im Zollfreiparadies und Skifahren in einer der besten und grössten Skiarenen der Alpen: Dafür ist Samnaun bekannt. Manche Gäste kamen aber auch extra wegen der spektakulären Postautofahrt hierher. Mario unterhielt seine Mitfahrenden gerne mal mit einem Spruch, als er die engen Tunnels passierte. So wurden die Fahrten zu einem speziellen und unvergesslichen Erlebnis.
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Text: Franco Furger
Bilder: Michelle Zbinden & Jasmin Jenal